„Das Beste der Musik steht nicht in den Noten“, stellte Gustav Mahler einmal fest. Weil nämlich erst die Interpretation das Werk eigentlich zum Leben erweckt. Gleichzeitig sprach Paul Hindemith von der „unvermeidlichen Tragödie im Dasein des Musiknachschaffenden“, der „gänzlich hinter dem Dargebotenen verschwindet“.
# In der Musik des 20. Jahrhunderts ist die Bedeutung der Interpretation im musikalischen Schaffensprozess bisweilen fahrlässig heruntergespielt worden. Sieht man vom Interpretenkult, der vor allem seitens der Musikindustrie geschürt wurde, einmal ab, wurde das Werk als der eigentliche Gegenstand des musikalischen Diskurses drastisch aufgewertet.
# Was für die Geschichte der klassischen Musik gilt, lässt sich auch in anderen Genres beobachten. Im Bereich Popkultur wurde vor allem die Kategorie der Performativität bemüht, um über Unterschiede der musikalischen Darbietung zu sprechen, Kategorien, die es an einen diskurs-fähigen Interpretationsbegriff anzugleichen gälte. Die Coverversion und der Remix beschreiben hingegen Übertragungsphänomene, ohne dass dabei die Selbstständigkeit des Interpreten als Vergleichs- und Referenzgröße je näher betrachtet worden wäre.
# faithful! möchte den Interpretationsbegriff neu befragen und Interpretation als Kategorie des Sprechens über Musik rehabilitieren. Dabei sollen Situationen geschaffen werden, in denen die Unterschiede der musikalischen Praktiken offen zutage treten. Im Mittelpunkt steht dabei der Interpretationsvergleich, indem verschiedene Ensembles und Solisten dasselbe Werk aufführen. Dabei geht es sowohl um die Idee der Objektivität und der Werktreue, als auch um die Idee einer Schule, die mit national gefärbten Klangcharakteristika und einer oft bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Schüler-Lehrer-Verbindung einhergeht. Im direkten Vergleich wird vor allem deutlich, dass sich in den Ländern divergierende Interpretationsideale durchgesetzt haben. Musiker können bestätigen, dass in Frankreich Klarheit und das Timbre eine größere Rolle spielen als beispielsweise im deutschsprachigen Raum, dem man gerne eine stärker am Tonsatz orientierte Gewichtigkeit bescheinigt. Mit dem Interpretationsvergleich knüpft faithful! an die von den Dresdner Tagen für zeitgenössische Musik (2005) und den Donaueschinger Musiktagen (2008 & 2010) gegebenen Impulse an.
Weitere Situationen, in denen der Begriff der musikalischen Interpretation greifbar wird, sind eine Karaoke-Matinee mit Werken der zeitgenössischen Musik, die intuitive, Partitur-ungebundene Erfassung eines Werkes durch das US-amerikanische Ensemble sfSound, die Reinterpretation der atonalen Kammersinfonik durch das Vegetable Orchestra, Transkriptionen der Stücke für präpariertes Klavier von John Cage, Giacinto Scelsi und Steve Reich auf dem Midi-Keyboard von Kerry Yong, Re-Works von Kurt Cobain, Ian Curtis, Sid Visious, Janis Joplin, Nick Drake, Jim Morrison, Amy Winehouse oder Giovanni Battista Pergolesi durch die junge Without Additives No Stars Big Band, eine vergleichende Praxis verschiedener DJ-Kulturen und die offene Form der musikalischen Grafik, die Cornelius Cardew in seinem Stück Treatise exemplarisch entfaltet.
# Gleichzeitig sollen prekäre Aspekte der musikalischen Aufführung reflektiert werden, darunter die Zwangslage, ein Werk aufführen zu müssen, das man nicht gerne spielt. Die Podiumsdiskussionen widmen sich unter anderen den Fragen der musikalischen Kritik – mit dem „Quartett der Kritiker“ des Preises der deutschen Schallplattenkritik –, der Vermarktung von Interpreten und dem Spannungsverhältnis zwischen dem musikalischen Einfall des Komponisten und den Möglichkeiten der Musiker, das häufig im „falschen Schein berechtigter Zukunftsmusik“ (Siegfried Mauser) seinen Ursprung hat.
# Unter den Interpreten finden sich einerseits Ensembles und Musiker, die sich dem Neuen und dem Experiment verschrieben haben, andererseits solche Interpreten, die eine Tradition bewusst fortführen und bestenfalls behutsam erneuern. Renommierte Solisten, Orchestermusiker und waghalsige Experimentatoren stehen sich gegenüber, um die möglichen Facetten der musikalischen Interpretation zu veranschaulichen.
# Im Repertoire wurden viele Werke aufgenommen, die die Rolle des Interpreten kompositorisch reflektieren, darunter Heinz Holligers Cardiophonie, bei dem der Solist zu seinem eigenen Herzschlag als Tempogeber spielt und zwangsläufig an seiner eigenen Erregung scheitert, oder Simon Steen-Andersons Study for String Instrument #2, bei dem der Cellist in seinen Bewegungsabläufen empfindlich gestört wird. Auch die Aufträge wurden an solche Komponisten vergeben, die sich mit der Rolle der Interpreten auseinander gesetzt haben und die sowohl die Persönlichkeit der Musiker als auch das Verhältnis zu ihrem Instrument exponieren. Eine weitere Kategorie sind Lieblingsstücke, in denen die Musiker die Möglichkeit haben, sich zu entfalten, darunter Mathias Spahlingers Adieu m’amour, Salvatore Sciarrinos Tre notturni brillanti und James Tenneys In a Large, Open Space. Schließlich bemüht sich faithful! um eine Reihe von Komponisten, deren Arbeiten von der Historie übersehen wurden, darunter die beiden Schönberg-Schüler Nikos Skalkottas aus Griechenland, den Schönberg zu seinen talentiertesten Schülern zählte, der aber 1949 bereits im Alter von 45 Jahren verstarb, und Józef Koffler, der erste Zwölftonkomponist Polens, der 1944 von deutschen Soldaten ermordet wurde.
# Ein weiterer Schwerpunkt der beiden Konzertwochenenden ist die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Interpretation und Technik, der sich nicht nur anhand der Geschichte des Instrumentenbaus nachvollziehen lässt, sondern auch daran, dass die neuen Medien die Künstler zu neuen Interpretationsstrategien anregen und bisweilen sogar nötigen. Hierher gehören maschinelle Reproduktionen von Werken der klassischen Musik wie sie Cory Arcangel, Scrambled Hackz oder Alexei Shulgin in den vergangenen Jahren realisiert haben. Hierher gehört aber auch das Reenactment, das nachstellen von Videos und Konzerten, wie es im Internet von zahlreichen Fans und Hörern praktiziert wird und das mittlerweile zu einer eigenen Kategorie des Videoclips avanciert ist. Beide Aspekte werden im Rahmen einer Ausstellung in Kooperation mit Disk e. V. und General Public beleuchtet.
# Der Festivaltitel faithful! geht übrigens auf ein Album des amerikanischen Gitarristen und Produzenten Todd Rundgren zurück, der 1976 Songs u. a. von den Beach Boys, den Beatles, Bob Dylan und Jimi Hendrix nachspielte und sich dabei bemühte, dem Original so nahe wie möglich zu kommen.